Die Kolonnaden in Kislowodsk

September 24, 2009

“Er erblaßte, wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn und dachte: Was hab ich bloß? So was kenne ich doch gar nicht. Das Herz macht Dummheiten … Ich bin überarbeitet. Vielleicht sollte ich alles stehn- und liegenlassen und nach Kislowodsk abhauen.” – Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita, S. 12.

In Russland ist Kislowodsk/Кисловодск als Kurort bekannt und beliebt, denn es gibt dort etliche Sanatorien und Heilbäder. Manch einer assoziiert mit der Stadt auch den Geburtsort Alexander Solschenizyns. Im Kaukasus Vorland gelegen ist es mit Mineralquellen gesegnet und hat dazu noch 300 Sonnentage pro Jahr. Schon im 19. Jahrhundert war es ein begehrter Erholungsort für alle, die es sich leisten konnten.
So las man bereits im Mai 1831 in der 133sten Ausgabe der Zeitschrift “Das Ausland – Kundes des geistlichen und sittlichen Lebens der Völker” folgende Ortsbeschreibung:

“Kislovodsk ist rings von Bergen mittlerer Höhe umschlossen, die den Einwohnern dieser Kolonie des Anblicks der Zentralkette berauben, nichts desto weniger fehlt es aber dem Ort an malerischen Partien. Einige moderne Häuser, bestimmt, die Kranken zu beherbergen, die des Sommers dem Orte zuströmen, sind ziemlich regelmäßig um ein Becken gereiht, auf dessen Boden man in Blasen ein klares, mit kohlensaurem Gas geschwängertes Wasser aufgähren sieht; die Temperatur dieser Quelle beträgt zwar nicht über 12 ° R., aber die Menge des Gases, das sie enthält und das sich losmacht bewirkt dieses Kochen, worüber der Zuschauer sich verwundert.  […] Mehrere Zelte und zwei bedeckte Gallerien, die zum Baden eingerichtet sind, liegen direkt an der Quelle; etwas weiter davon ein Speisehaus und die Wohnungen der Patienten, und im Hintergrund die Hütten der Kosaken, welche die Garnison des Postens bilden. Das Land steigt terassenförmig empor, von Fels zu Fels stürzt die Beresovka durch eine Ahorn- und Lindenallee nieder.”

Die Sowjetmacht verstaatlichte dann die Palais und machte Sanatorien daraus. Zusätzlich wurden weitere Erholungsstätten gebaut, damit soviel wie möglich Werktätige in den Genuss der Heilkräfte des mineralhaltigen Wassers gelangen konnten.

Kolonnade an der Kaskaden-Treppe

Kolonnade an der Kaskaden-Treppe 1954

Wenn ich meine Ansichtskarten von Kislowodsk/Кисловодск sehe, scheint über allem ein Hauch des 19. Jahrhunderts zu schweben. Eine für die Sowjetunion ungewöhnlich mondäne Ausstrahlung. So auch bei dem hier ausgewählten Motiv. Diese Sehenswürdigkeit nennt sich “Kolonnade an der Kaskaden Treppe/Колоннада у Каскадной лестницы”. Auf den ersten Blick vermutete ich, dass dieser klassizistische Säulengang aus dem 19. Jahrhundert kommt, aber dann fand ich im Internet, dass er 1934-35 gebaut worden ist. Ob es ein Verweis auf die Historie und den Stil des Ortes sein soll oder ein künstlerisches Verständnis darstellt, was auf den ewigen und wahren Werten basiert, scheint beides denkbar. Wenn ich mir andere Sowjetische Ansichtskarten der 30-50 Jahre aus traditionellen russischen Kurorten anschaue, bemerke ich öfters einen gepflegten Charme der Bourgeoisie. Eine gewisse Schwülstigkeit in der Architektur, aber auch in der Abbildungsweise. Erst später tauchen nüchterne und dementsprechend etwas emotionslose Ansichtskarten dieser Orte auf. Diese drei AK kommen aus drei verschiedenen Jahrzehnten und zeigen jeweils die “Kolonnade an der Kaskaden Treppe/Колоннада у Каскадной лестницы”. Es sind klassische Ansichtskarten einer Sehenswürdigkeit, die während eines Urlaubes oder Kuraufenthaltes verschickt werden konnten.

Die älteste Karte stammt aus dem Jahr 1954 und wurde bei ISOGIS/ИЗОГИЗ (Verlag für Bildende Kunst) herausgegeben (Fotograf Ja. Chalip/Я. Халип). Die nächste Karte ist 1977 vom Ministerium für Kommunikation der Sowjetunion/Министерство связи СССР veröffentlicht worden (Fotograf A. Bogdanow/А. Богданов) und die jüngste der drei wurde 1982 vom lokalen Verlag “Kaukasischer Kurort”/ “Кавкаская здравница” herausgegeben (Fotograf A. Mussin/А. Мусин). Mir scheinen die 3 Ansichten symptomatisch für ihre jeweilige Entstehungszeit zu sein. An ihnen kann man die Geschichte der Sowjetunion ablesen.

Kislowodsk 1954 - Detail

Kislowodsk 1954 - Detail

Die Karte von 1954 ist in touristischer Manier recht pittoresk gehalten. Im Vordergrund die sonnenbeschienene Kolonnade/Колоннада, im Hintergrund das Städtchen im bergigen Ambiente und mittendrin 2 junge Paare, die unter der Kolonnade/Колоннада lustwandeln. Die beiden Paare scheinen sich zu kennen – sie wirken, als ob sie sich gleich begrüßen würden. Die Frau vom rechten Paar trägt einen Sonnenschirm und ein langes weißes Sommerkleid. Dieses Outfit will so gar nicht in meine Vorstellung einer sowjetischen Werktätigen passen. Zusammen mit der Kolonnade/Колоннада wird der Eindruck eines elitären Ortes noch verstärkt. Auch die Männer tragen sommerlich helle Anzüge und tragen zur fröhlichen Stimmung bei. Weiter hinten im Bild kann man noch einige Menschen erahnen.

Kislowodsk 1977

Kolonnade in Kislowodsk 1977

Auf der Karte von 1977 wirkt die Stimmung schon nüchterner. An der Kolonnade/Колоннада hat sich nicht viel geändert. Im Laufe der Zeit wurden elektrische Lampen installiert und beinahe sieht es so aus, als ob der obere Teil des Baus verputzt wurde – ich kann keine Fugen mehr erkennen. Ebenso wie bei der ersten Karte sieht man die Stadt im Hintergrund liegen, aber der Standpunkt des Fotografen war etwas erhöht und so hat man einen Aufblick auf die Kolonnade/Колоннада und gleichzeitig eine bessere Sicht auf die Stadt. Sie hat inzwischen einige Hochhäuser bekommen und einen dunklen Schornstein. Pittoresk ist diese Ansicht nicht mehr zu nennen. Kislowodsk/Кисловодск soll großstädtisch wirken.

Kislowodsk 1977 - Detail

Kislowodsk 1977 - Detail

Die beiden Personen auf der Ansichtskarte wirken auch nicht gerade mondän. Die Frau scheint mit einem Einkaufsbeutel in der Hand durch den Park zu eilen und der Mann lehnt an der Brüstung und wartet. Die beiden kennen sich nicht und der Rücken der Frau verdeckt halb den wartenden Mann. Sie sehen nicht aus wie Urlaubsgäste, eher wie Einheimische. Die Kolonnade/Колоннада wurde entzaubert und ihrer Ausstrahlung beraubt. Ist es á la Brigitte Reimann eine “Ankunft im Alltag”? Auf der Rückseite befindet sich ein familiärer Urlaubsgruß nach Dresden: “Herzlichst Eure Eltern”.

Kislowodsk 1982

Kislowodsk 1982

Die 1982 veröffentlichte Karte wirkt dagegen wieder etwas gediegener. Mit goldener Prägeschrift! Die Stadt hat der Fotograf geschickt hinter den Bäumen versteckt. Nur ein kleiner Ausschnitt lässt eine Großstadt erahnen. Die Blumenrabatte und der übliche blaue Himmel erzeugen eine friedliche Stimmung. Obwohl die Kolonnade/Колоннада relativ sachlich fotografiert ist, wirkt sie monumental im Vergleich zu den Menschen und Bänken. Links neben der Kolonnade/Колоннада als Hauptaugenmerk sind mir die beiden älteren Herrschaften sofort aufgefallen. Sie stehen etwas steif inszeniert in der Gegend. Ist es ein Paar? Wirken sie nur neben den Säulen so klein oder sind sie tatsächlich geschrumpft.

Kislowdosk 1982 - Detail

Kislowdosk 1982 - Detail

Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass das Paar von der 1954er Ansichtskarte nochmal 30 Jahre später fotografiert wurde – ein Vorher/Nachher Effekt. Die Bäume sind größer geworden, die Stadt ist gewachsen und die Menschen sind gealtert. Lediglich die zeitlose Kolonnade/Колоннада ist gleich geblieben. Waren die Paare auf der ersten Karte ca. 30 Jahre alt, sind sie auf der dritten Karte um die 60 Jahre alt. Aus der eleganten Dynamik ist statische Anwesenheit geworden. Die helle fröhliche Sommerkleidung hat sich zu einer ältlichen dunklen Garderobe gewandelt. Aus den Körpern scheint die Kraft entwichen. Da schafft auch die goldene Aufschrift keine Verjüngung. Für mich ist die Karte von 1982 ein treffendes Abbild für die Jahre der “Stagnation/Эпоха застоя” unter Breschnew/Брежнев, der übrigens genau im Erscheinungsjahr dieser Ansichtskarte verstarb. Sein (Kurzzeit-)Nachfolger wurde Juri Andropow/Юрий Андропов) reiste alljährlich nach Kislowdosk zur Kur. Dort lernte er einen jungen aufstrebenden Parteisekretär kennen: Michail Gorbatschow/Михаил Горбачёв.

Thomas Neumann (Bearbeitung: Ben Kaden)

Kislowdosk in der Wikipedia

Kislowdosk bei Google Maps

Diese Karte ist mir ob ihrer Schlichtheit und Klarheit aufgefallen. Das dünne lapidare Papier und die nicht gerade berauschende Abbildungsqualität machten mich Neugierig. Und tatsächlich hat sie etwas Besonderes. Sie wurde von einem Артель ФОТО/FOTO Genossenschaft in einer sehr kleinen Auflage von 1880 Exemplaren im Jahre 1956 herausgegeben. Produziert wurde sie als sogenannte “Echt-Foto-Postkarte” (siehe dazu auch Erasmus Schröters Buch über die Echt-Foto-Postkarten der DDR). Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, gab es die FOTO Genossenschaften/Артель ФОТО nur bis in die 50er Jahre hinein. Das waren Zusammenschlüsse von lokalen Fotografen, die auf einfache Art und Weise Ansichtskarten in geringer Auflage herstellten. Meist arbeiteten sie in Touristengebieten (Krim/Крим, Sotschi/Сочи, Kaukasus/Кавказ), wo sie die ohnehin raren Ansichtskarten problemlos verkaufen konnten. In der Regel waren es Amateure, die sich auf diese Weise in der Nachkriegs-Sowjetunion Geld dazuverdienten.

Артель ФОТО 1956

Артель ФОТО 1956

Manchmal taucht auch die Bezeichnung Артель инвалидов/ Invaliden Genossenschaft auf. Das waren Kriegsversehrte, die sich eine Jobmöglichkeit schufen. Insofern sind die meisten der von FOTO Genossenschaften/Артель ФОТО hergestellten Ansichtskarten etwas verkitscht, oft sind es auch Grußkarten mit einem Spruch versehen oder süße Aufnahmen von Kindern oder Katzen. Zum Teil wurden sie koloriert. Trotz der geringen Qualität dieser Ansichtskarten muss man feststellen, dass sie sich an marktwirtschaftlichen Aspekten, also an der Verkaufbarkeit orientierten, was man von späteren farbigen “typisch” Sowjetischen Ansichtskarten nicht unbedingt sagen kann.
Gegen Ende der 50er Jahre scheinen die FOTO Genossenschaften/Артель ФОТО zu verschwinden. Die stärkere Zentralisierung der Ansichtskarten-Verlage in der Sowjetunion und ein ausgeprägteres Bewusstsein für die Wirkungsmacht von Ansichtskarten mögen Gründe zur strengeren Kontrolle der FOTO Genossenschaften/Артель ФОТО gewesen sein, die am Ende zu deren Schließung führte. Vermutlich wurde auch die genossenschaftliche Eigeninitiative der beteiligten Leute argwöhnisch von “oben” beäugt und mit dem Argument der fehlenden Professionalität sicherheitshalber gestoppt.

Interessant ist ein Preisvergleich. Die 1956 von der FOTO Genossenschaft/Артель ФОТО herausgegebene Karte war mit 75 Kopeken recht teuer. Eine ebenso s/w Karte von Archangelsk/Архангельск aus dem Jahr 1961 kostete nur 8 Kopeken (Auflage 20000 Stück, hergestellt in fernen Rostow a. Don/Ростов на Дону!). Und die 1966 vom großen Verlag “Sowjetischer Künstler/Советский художник” publizierte Karte kostete nur 1 Kopeke. Durch die Zentralisierung wurde nicht nur eine stärkere Überwachung ermöglicht, sondern es ergaben sich auch Synergie-Effekte und damit eine höhere Effizienz.

Die hier besprochene Ansichtskarte aus Archangelsk/Архангельск fällt etwas aus dem üblichen FOTO Genossenschaften/Артель ФОТО Rahmen heraus. Archangelsk/Архангельск ist keine Touristenstadt und die Ansicht zeigt keine berühmte Sehenswürdigkeit. Ich vermute, dass es von den offiziellen Ansichtskarten-Verlagen keine oder wenige Ansichtskarten von Archangelsk/Архангельск gab und sich deshalb die lokalen Fotografen und Verleger engagierten und eine FOTO Genossenschaft/Артель ФОТО gründeten.

Archangelsk/Архангельск

Uferpromenade im Archangelsk der 1950er Jahre

Obwohl Archangelsk/Архангельск eine sehr alte Stadt ist, liegt sie doch sehr weit im Norden und irgendwie weit in der Provinz. Sie hatte 1989 etwa 415000 Einwohner, jetzt noch etwa 350000. Die nördliche Dwina/Северная Двина fliesst durch die Stadt und mündet in der Nähe in das Weiße Meer. Seit dem Mittelalter war Archangelsk/Архангельск deshalb eine wichtige Hafenstadt und Handelsstation. Und so taucht die nördliche Dwina/Северная Двина dementsprechend oft auf Ansichtskarten der Stadt auf. Wie auch auf der hier vorliegenden Karte.
“Uferpromenade/Набережная” ist als Titel der Ansichtskarte auf der Rückseite angegeben. In schönster Handschrift hat jemand noch zusätzlich notiert: “Das ist unsere Stadt. Die Uferpromenade unseres Flusses Nördliche Dwina/Это наш город. Набережная нашей реки Северной Двины”. Der Schreiber/die Schreiberin dieser Zeilen scheint jedenfalls stark verbunden zu sein mit der Stadt und dem Fluss. Alles ist kollektives Gut, alles ist “unser/наш”.

Das ist vielleicht auch der Geist des Monuments auf der Vorderseite. Es scheint ein durchschnittliches Monument des “Neuen Menschen” zu sein. Das Gesicht des Mannes erinnert mich etwas an Juri Gagarin/Юрий Гагарин, aber ich bin mir nicht sicher. Der Mann, ein Arbeiter, vielleicht auch ein Ingenieur grüßt den Betrachter mit seiner kräftigen rechten Hand. Dynamisch setzt er ein Bein leicht nach vorn und kommt so auf den Betrachter zu. Die Ärmel sind hochgekrempelt und auf seiner linken Schulter sitzt ein junges Mädchen. Ob es seine Tochter sein soll, weiß man nicht. Sie lässt eine Taube, eine Friedenstaube steigen. Die beiden haben für mich weniger eine familiäre Bindung, eher scheinen beide gesellschaftlich besetzt und engagiert zu sein. Der Mann steht stabil und zupackend in der Welt und schultert zudem das Mädchen, was sich für den Frieden einsetzt. Mit dem Symbol der Taube schließt sich interessanter Weise der Bogen zum Stadtnamen Archangelsk/Архангельск, was Erzengelstadt bedeutet. Die Weihnachtsbotschaft “Friede auf Erden” und das kommunistische “миру мир” liegen eben dicht beieinander.
Junge Birken säumen die beiden ordentlichen Fußwege auf der Uferpromenade. Weiter hinten leuchtet noch ein weißer Sockel. Leider erkennt man nicht das darauf stehende Monument. Die Vermutung liegt Nahe, dass es die zum Mann und Kind dazugehörige Frau ist. Eine sozialistische Familie.

Archangelsk - Monument und Spaziergänge

Archangelsk - Monument und Spaziergänger an der Uferpromenade

Am linken Rand der Ansichtskarte sieht man eine Person. Er hat einen langen dunklen Mantel an und einen Hut auf dem Kopf. Den Rücken zu uns gewandt, lehnt er am Geländer und schaut auf den Fluß. Neben dem heroischen Monument wirkt er klein und düster. Der “Neue Mensch” blickt nach vorne, der Spaziergänger nach hinten auf den ewigen Lauf des Flusses.

Auf späteren Ansichtskarten von Archangelsk/Архангельск (aus meiner Sammlung) taucht dieses Monument nicht mehr auf. Wurde es unpopulär? Oder gar abgebaut? Das Klima ist hart dort im Norden und das Monument scheint nicht aus richtig haltbarem Material gebaut zu sein. Auch auf der wiki Seite der “Uferpromenade/Набережная” es nicht verzeichnet.

http://de.wikipedia.org/wiki/Archangelsk

http://ru.wikipedia.org/wiki/Набережная_Северной_Двины

Archangelsk bei Google Maps