Der Tevelev-Platz in Charkiw

September 26, 2009

Greift die Ansichtskarte aus Bijsk ein schönes,  modernes Einzelgebäude und seine Nutzung als Motiv auf, präsentiert sich die Karte aus Charkiw / Харків als etwas uninspirierte Draufsicht auf den zentralen (Verkehrs)Platz des Stadt: dem Tevelev Platz / Площадь Тевелевa.

Charkov - Tevelev-Platz

Charkiw - Tevelev-Platz

Wer sich heute in die Nordost-Ecke der Ukraine aufmacht, um die zweitgrößte Stadt des Landes zu besuchen, findet freilich einen Platz dieses Namens nur ab und an in den Romanen Eduard Limonows, die der Besucher vielleicht aus einem Regal der berühmten Buchhandlung Дом со шпилем am sich in südlichen Richtung anschließenden Rosa-Luxemburg-Platz (Площадь Розы Люксембург) ziehen und durchblättern kann.

Den Namen “Tevelev”, der an eine Person namens M.S. Tevelev/ М. С. Тевелев  erinnern sollte, deren Ruhm als Untergrundkämpfer während desr Bürgerkriegs 1917/1918 nicht in die Allgemeinbildung auch von in der DDR Aufgewachsener vordrang, trug der wahrscheinlich älteste Platz der Stadt nur von 1919 bis 1975. Danach entpersonalisierte man den Stadtnamen und regionalisierte die Bezeichnung in Platz der Sowjetischen Ukraine/ Площадь Советской Украины. Da diese nicht allzu viel später die sowjetische Eigenschaft zugunsten eines rein Ukrainischen Charakters verlor, folgte alsbald die dritte Umbennung: Seit 1996 und bis heute heißt der vier Hektar große Platz im Herzen der Stadt Platz der Verfassung/Площадь Конституции.

Die Einordnung der Karte selbst bereitet mir etwas Schwierigkeiten, da die Metadaten in einer Form abgebildet werden, die Thomas sicherlich keine Probleme bereiten, mich aber vor gewisse Schwierigkeiten stellen. Als Fotograf ist immerhin М. Селюченка genannt, ein Name der in der Ukrainischen Fotografiegeschichte häufiger auftaucht. Ich füge die Rückseite der Ansichtskarte bei und hoffe natürlich auf eine Aufklärung seitens Thomas’.

Rückseite

Rückseite der Ansichtskarte

Das Motiv selbst macht einem die Datierung nicht sonderlich leicht, was z.T. der wirklich erbärmlichen Bildqualität geschuldet ist. Man sieht die Oberleitungen der Oberleitungsbusse und/oder Straßenbahnen, wobei keine Schienen sichtbar sind. Die Autos lassen auf die 1960er Jahre schließen. Das Gebäude auf der linken Seite ist das Haus der Wissenschaft und Technik / Дом науки и техники. Ein Großteil des Platzes erstreckt sich jenseits des rechten Bildrandes. Insofern täuscht die Aufnahme ein wenig über den eigentlichen Platzcharakter hinweg und reduzierte die Blickachse auf die Spuren des Durchgangsverkehrs von Nord nach Süd. Relativ mittig erkennt man das Gebäude der Stadtverwaltung in zeittypischer, neoklassizistisch angehauchter Türmchenarchitektur.

Der Platz erscheint als reiner Verkehrsplatz, die Fußgänger bleiben weitgehend auf den Trottoirs.  Dort jedoch herrscht offensichtlich recht emsiges Treiben, wobei die Richtung Schatten eine Aufnahme am Nachmittag nahelegen.  Die Kleidung der Pasanten ist z.T. frühlingshaft-sommerlich. Man erblickt Blusen, kurze Hosen und Röcke, hochgeschlagene Hemdärmel. Andererseits begegnen einem auch Mäntel und Jacken. Die Straßenbäume sind allesamt belaubt, allerdings – sofern die Farbgebung der Karte dies hergibt – grün. Man hat es also eher mit Mai statt mit September zu tun. Die große Hitze ist es noch nicht, aber vermutlich ein Sonnentag, an dem sich womöglich in den Schatten und am Abend noch Kühle ausbreitet.

Kharkov Detail

Charkiw Detail

Die gesamte Atmosphäre lässt auf Feierabendstimmung schließen. Einige der abgebildeten Personen tragen Einkaufstaschen, auf  der Karte entdeckt man mindestens zwei Mütter mit Kindern, am linken Bildrand des obigen Ausschnitts erkennt drei vermutlich jüngere Menschen im Gespräch. Der Autoverkehr spricht nicht unbedingt für eine Rush Hour, was u.U. aber einfach an der vergleichsweise niedrigen Motorisierungsrate lag. Zudem sieht man rechts über dem blauen Omnibus hinter den Bäumen in der großen Ansicht ein Parkverbotsschild. Mit zwei U-Bahnlinien ist der Tevelev-Platz auch recht gut durch den öffentlichen Nahverkehr erschlossen. Aller Vermutung nach befindet sich rechts nahezu direkt jenseits des Bildausschnitts eine Treppe, die in die Tiefe und zur U-Bahn führt.

Dies alles ist als Mutmaßung ohne jede reale Ortskenntnis aus der Karte gelesen. Falls Korrekturen oder Anmerkungen angebracht scheinen, bitte ich um Benutzung des Kommentarfeldes.

In jedem Fall ist an diesem Beispiel der sowjetischen Ansichtskartengeschichte deutlich zu erkennen, wie man Stadtansichten in ihrer Alltäglichkeit zu inszenieren versucht. Dabei stellt man in diesem Beispiel fernab jeder baulichen oder skulpturalen Repräsentation, die an diesem Platz zweifellos zu finden sind, einen asphaltierten Platz in die Mitte, der von einigen sehr eindrucksvollen, aber an den Rand gerückten Gebäude eingegrenzt ist, immerhin zur rechten Seite hin eine weitere Öffnung andeutet und ansonsten von einer mit Oberleitungen umbundenen Laterne im Bildvordergrund eine recht ungewöhnliche Dominante erhält. Es ging bei dieser Ansichtskarteausgabe ganz offensichtlich um die Abbildung eines tatsächlichen und nicht sonderlich aufregenden Straßenbildes im Zentrum einer Stadt, die immerhin das bedeutenste Industriezentrum der Region war und ist. Für die Sowjetunion war die Stadt mit dem Завод имени Малышева ein Herzstück ihrer Rüstungsindustrie, wurde ihr doch ein Großteil der Panzer für die Rote Armee gebaut. Auch diese Tradition lebt bis heute fort. In der friedlichen Stimmung auf dem zentralen Platz der Stadt ist davon freilich nichts zu sehen. Es ist diese Alltäglichkeit, die Ansichtskarte aus Charkow mit der Bijsk und sehr, sehr vielen weiteren sowjetischen Ausgaben verbindet.

Update 30.09. 2009

Von Thomas habe ich mittlerweile die korrekten Metadaten erhalten:

Verlag: Радяньска Украйна / Radyanska Ukraina (wird meist РУ/RU abgekürzt)
Auflage: 155000
Erscheinungsjahr: vermutlich 1969
Fotograf: M. Seljutschenko / М. Селюченка
Die U-Bahn wurde anscheinend erst in den 1970ern gebaut, weshalb die Vermutung mit dem U-Bahn-Eingang wohl buchstäblich ins Leere läuft.

Ben Kaden

Charkiw in der Wikipedia

Charkiw bei Google-Maps

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