Kino und Kulturpalast. Zwei Ansichtskarten aus Nabereschnyje Tschelny/Набережные Челны
November 3, 2009
Die dritte der jüngst beschriebenen Ansichtskarten aus Kislowodsk/Кисловодск wurde 1982 herausgegeben und im November desselben Jahres starb Leonid Iljitsch Breschnew/Леонид Ильич Брежнев, der damalige Generalsekretär der KPdSU. Schon 8 Tage nach seinem Tod wurde ihm zu Ehren eine Stadt benannt. Es traf die Stadt Nabereschnyje Tschelny/Набережные Челны.
Bis 1988 hieß dieser Ort dann Breschnew/Брежнев, allerdings wurde der übergestülpte Name im Zuge der Perestroika schnell wieder abgelegt. Die Bewohner konnten vermutlich nicht viel mit dem Politikernamen anfangen, stand er doch für die Stagnation in der Sowjetunion. Außerdem kann Nabereschnyje Tschelny/Набережные Челны auf eine eigene lange Geschichte seit dem Mittelalter zurückblicken. Die Stadt liegt in der autonomen Republik Tatarstan/Республика Татарстан, die innerhalb Russlands als besonders eigenständig und stolz gilt.
Dennoch ist das heutige Nabereschnyje Tschelny/Набережные Челны eine typische Sowjetische Planstadt der Chruschtschow/Хрущёв Ära. Insofern ist es verständlich, dass gerade dieses erfolgreiche Industrie- und Siedlungsprojekt für einen Heldennamen wie Breschnew/Брежнев auserkoren wurde.
Die Entwicklung fing langsam an. Erst 1930 bekommt Nabereschnyje Tschelny/Набережные Челны mit 9300 Einwohnern das Stadtrecht zugesprochen. In den 1960ern wohnen dort etwa 30.000 Menschen. Ende der 60er Jahre verändert ein Beschluss der Partei das Schicksal der Stadt. Die Sowjetunion brauchte ein großes modernes LKW Werk. Gesagt, geplant, getan. Von da an ging es rapide voran.
Im Jahr 1976 werden die ersten LKWs namens KAMAZ in Nabereschnyje Tschelny/Набережные Челны produziert. Auch dieses Projekt birgt einige Superlative. Seinerzeit war es das flächenmäßig größte Automobilwerk der Welt. Ebenfalls gigantisch waren die Ziele der Stadtplanung. Die Bevölkerung sollte mehr als verzehnfacht werden. So wuchs die Stadt dann von den 70ern zu den 80ern von 30.000 bis auf 500.000 Einwohner an. Das ließ sich natürlich nur in massiver Großplattenbauweise und zügiger Bautempo bewerkstelligen.
Die Neustadt gliedert sich in Wohnkomplexe, die nummeriert aneinandergereiht zwischen Werk und dem Fluss Kama/Кама liegen. Ökonomisch und flächenmäßig Vorrang hatte der Aufbau der Industrie, die für damalige Verhältnisse sehr modern und effizient war. Neben LKWs wurden Motoren, Traktoren, Kleinwagen, Panzer u.ä. hergestellt. Trotz aller Umwandlungen in den 90er Jahren arbeiten auch heute noch 50.000 Menschen im KAMAZ Werk. KAMAZ LKWs nehmen erfolgreich an der Rallye Paris-Dakar teil und inzwischen hat die Daimler AG einen 10 %igen Anteil an KAMAZ erworben.

Набережные Челны (1981) / Брежнев (1983)
Die heutige Betrachtung bezieht sich auf eine Karte aus dem Jahr 1981 mit dem Stadtnamen Nabereschnyje Tschelny/Набережные Челны und eine zweite aus dem Jahr 1983 und mit dem Stadtnamen Breschnew/Брежнев. Beide wurden vom Fotografen W. Gasparjantz/В. Гаспарянц aufgenommen und durch das Ministerium für Kommunikation der Sowjetunion/Министерство связи СССР herausgegeben.
Die erste Karte zeigt das Kino “Tschulpan”/Кинотеатр “Чулпан”. Auf den ersten Blick ein ungewöhnlicher Name für ein Sowjetisches Kino, aber es ist ganz einfach das Tatarische Wort für “Venus”. Vermutlich geht es weniger um die Göttin der Liebe als um die kühne Erforschung des Weltraums. Zu friedlichen Zwecken. Das Mosaik an der Gebäudeseite vermag diese Interpretationsfrage nicht völlig zu bestätigen. Die Bildsprache deutet jedoch in Richtung Weltraum. Andererseits könnte die abgebildete junge Frau auch aus einer anderen Mythologie entstammen. Immerhin war die erste Sonde, die erfolgreich auf der Venus landete eine Sowjetische.
Das Kino ist ein Sowjetischer Standardbau, der durch Verzierungen, Metallblenden und eben den Tatarischen Namen lokal verankert wurde. Die Bauform Plattenbau erweist sich also durchaus als anpassbar. Vermutlich wird man ganz ähnlichen Bauten mit jeweils anderer Verzierung im Baltikum, im Kaukasus oder in Zentralasien finden.
Die Birken vor dem Kino “Tschulpan”/Кинотеатр “Чулпан” sind jung und wurden wahrscheinlich nach dem Bau des Kinos dort angepflanzt. Soweit ich erkennen kann, sind auch die vorbei eilenden Menschen jung. Eine typische, dynamische “Neue Stadt”. Ob die Leute direkt ins Kino gehen, ist nicht klar. Auf der Ansichtskarte ist der Eingang des Kinos nicht zu sehen. Welche Filme laufen, ist nicht zu lesen. In den Schaufenstern wird etwas ausgestellt. Es sieht aus wie kleine Bilder, vielleicht sind es einfach Informationen zu den laufenden Filmen.

Menschen am Schaufenster
Die zweite Karte zeigt den Kulturpalast “Energetik”/Дворец культуры “Энергетик”. Ein massives Gebäude, dass im Sonnenlicht strahlt. Ein “Energetik” ist jemand, der in der Energiewirtschaft arbeitet. Der Titel klingt nach Dynamik, nach Antrieb, buchstäblich energetisch.

Kulturpalast in Breschnew
Der Panzerkreuzer Aurora auf dem Plakat erinnert an die Große Sozialistische Oktoberrevolution und erscheint mir ganz passend zu dem Palast, der selbst an ein Schiff erinnert, das sich seinen Weg bahnt. Durch die Gliederung in verschiedene Kuben wirkt das Gebäude aufgelockert. An der Stirnseite gibt es eine annähernd symmetrische Front und einen durch eine Treppe erhöhten Eingang. Allerdings ist die Längsseite die Hauptfront und dementsprechend befindet sich dort auch der große Haupteingang. Entworfen wurde das Gebäude von einem Architektenteam aus dem Baltikum. 1973 wurde es eingeweiht.
Die Kombination von traditioneller symmetrischer Tempelfront und moderner großzügiger Hauptfront finde ich eine interessante Lösung. Dennoch bleibt die Frage, was in diesem großen Gebäude passiert. Wird dort der Kulturplan erstellt, umgesetzt oder kontrolliert? Die Bezeichnung Kulturpalast/Дворец культуры wurde vermutlich in der Sowjetunion nach der Revolution geprägt. Nach den Informationen der Wikipedia gab es 1988 in der gesamten Sowjetunion etwa 137000 solcher Paläste.
Im Moment der Aufnahme wirkt der Kulturpalast “Energetik”/Дворец культуры “Энергетик” nicht gerade belebt. Der große Vorplatz wirkt öde. Wie auf vielen anderen Ansichtskarten auch, hatten der Fotograf und/oder der Verlag den Wunsch, das komplette Gebäude auf dem Foto zu erfassen. Als ob allein die fotografierte Gesamtheit alles über das abgebildete Objekt aussagen würde! Diese nüchterne Sachfotografie scheint sich jeglicher Subjektivität zu entziehen, aber erzeugt im gleichen Moment eine große Langeweile. Vielleicht sollte man es als eine Inventarisierung der Gebäude der Sowjetunion betrachten? Dennoch finde ich es merkwürdig, dass die in Propaganda geübten Sowjetischen Instanzen gerade bei den Ansichtskarten die Wirkungskraft der Fotografie so wenig berücksichtigt haben.
Als historisches Dokument ist es natürlich interessant, denn durch diese Sachfotografie kann das Bild der Sowjetunion klarer gezeichnet werden. So erfahren wir, dass der Vorplatz des Kulturpalastes “Energetik”/Дворец культуры “Энергетик” aus groben Betonplatten gelegt wurde. Dazwischen wächst das Unkraut und für Fußgänger scheint es nicht besonders bequem zu sein. Ein Trampelpfad kürzt die vorgegebene Wegstrecke ab. Auf der Ansichtskarte selbst kann ich mit Mühe fünf Personen zählen, und ich meine, es sind alles Frauen.

Passanten am Kulturpalast
Eine etwas fröhlichere und lebendigere Geschichte des Kulturpalastes “Energetik”/Дворец культуры “Энергетик” kann man auf der russischen Website zum Objekt nachlesen.
Thomas Neumann (Bearbeitung: Ben Kaden)
– Набережные Челны bei Google Maps
Die Kolonnaden in Kislowodsk
September 24, 2009
“Er erblaßte, wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn und dachte: Was hab ich bloß? So was kenne ich doch gar nicht. Das Herz macht Dummheiten … Ich bin überarbeitet. Vielleicht sollte ich alles stehn- und liegenlassen und nach Kislowodsk abhauen.” – Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita, S. 12.
In Russland ist Kislowodsk/Кисловодск als Kurort bekannt und beliebt, denn es gibt dort etliche Sanatorien und Heilbäder. Manch einer assoziiert mit der Stadt auch den Geburtsort Alexander Solschenizyns. Im Kaukasus Vorland gelegen ist es mit Mineralquellen gesegnet und hat dazu noch 300 Sonnentage pro Jahr. Schon im 19. Jahrhundert war es ein begehrter Erholungsort für alle, die es sich leisten konnten.
So las man bereits im Mai 1831 in der 133sten Ausgabe der Zeitschrift “Das Ausland – Kundes des geistlichen und sittlichen Lebens der Völker” folgende Ortsbeschreibung:
“Kislovodsk ist rings von Bergen mittlerer Höhe umschlossen, die den Einwohnern dieser Kolonie des Anblicks der Zentralkette berauben, nichts desto weniger fehlt es aber dem Ort an malerischen Partien. Einige moderne Häuser, bestimmt, die Kranken zu beherbergen, die des Sommers dem Orte zuströmen, sind ziemlich regelmäßig um ein Becken gereiht, auf dessen Boden man in Blasen ein klares, mit kohlensaurem Gas geschwängertes Wasser aufgähren sieht; die Temperatur dieser Quelle beträgt zwar nicht über 12 ° R., aber die Menge des Gases, das sie enthält und das sich losmacht bewirkt dieses Kochen, worüber der Zuschauer sich verwundert. […] Mehrere Zelte und zwei bedeckte Gallerien, die zum Baden eingerichtet sind, liegen direkt an der Quelle; etwas weiter davon ein Speisehaus und die Wohnungen der Patienten, und im Hintergrund die Hütten der Kosaken, welche die Garnison des Postens bilden. Das Land steigt terassenförmig empor, von Fels zu Fels stürzt die Beresovka durch eine Ahorn- und Lindenallee nieder.”
Die Sowjetmacht verstaatlichte dann die Palais und machte Sanatorien daraus. Zusätzlich wurden weitere Erholungsstätten gebaut, damit soviel wie möglich Werktätige in den Genuss der Heilkräfte des mineralhaltigen Wassers gelangen konnten.

Kolonnade an der Kaskaden-Treppe 1954
Wenn ich meine Ansichtskarten von Kislowodsk/Кисловодск sehe, scheint über allem ein Hauch des 19. Jahrhunderts zu schweben. Eine für die Sowjetunion ungewöhnlich mondäne Ausstrahlung. So auch bei dem hier ausgewählten Motiv. Diese Sehenswürdigkeit nennt sich “Kolonnade an der Kaskaden Treppe/Колоннада у Каскадной лестницы”. Auf den ersten Blick vermutete ich, dass dieser klassizistische Säulengang aus dem 19. Jahrhundert kommt, aber dann fand ich im Internet, dass er 1934-35 gebaut worden ist. Ob es ein Verweis auf die Historie und den Stil des Ortes sein soll oder ein künstlerisches Verständnis darstellt, was auf den ewigen und wahren Werten basiert, scheint beides denkbar. Wenn ich mir andere Sowjetische Ansichtskarten der 30-50 Jahre aus traditionellen russischen Kurorten anschaue, bemerke ich öfters einen gepflegten Charme der Bourgeoisie. Eine gewisse Schwülstigkeit in der Architektur, aber auch in der Abbildungsweise. Erst später tauchen nüchterne und dementsprechend etwas emotionslose Ansichtskarten dieser Orte auf. Diese drei AK kommen aus drei verschiedenen Jahrzehnten und zeigen jeweils die “Kolonnade an der Kaskaden Treppe/Колоннада у Каскадной лестницы”. Es sind klassische Ansichtskarten einer Sehenswürdigkeit, die während eines Urlaubes oder Kuraufenthaltes verschickt werden konnten.
Die älteste Karte stammt aus dem Jahr 1954 und wurde bei ISOGIS/ИЗОГИЗ (Verlag für Bildende Kunst) herausgegeben (Fotograf Ja. Chalip/Я. Халип). Die nächste Karte ist 1977 vom Ministerium für Kommunikation der Sowjetunion/Министерство связи СССР veröffentlicht worden (Fotograf A. Bogdanow/А. Богданов) und die jüngste der drei wurde 1982 vom lokalen Verlag “Kaukasischer Kurort”/ “Кавкаская здравница” herausgegeben (Fotograf A. Mussin/А. Мусин). Mir scheinen die 3 Ansichten symptomatisch für ihre jeweilige Entstehungszeit zu sein. An ihnen kann man die Geschichte der Sowjetunion ablesen.

Kislowodsk 1954 - Detail
Die Karte von 1954 ist in touristischer Manier recht pittoresk gehalten. Im Vordergrund die sonnenbeschienene Kolonnade/Колоннада, im Hintergrund das Städtchen im bergigen Ambiente und mittendrin 2 junge Paare, die unter der Kolonnade/Колоннада lustwandeln. Die beiden Paare scheinen sich zu kennen – sie wirken, als ob sie sich gleich begrüßen würden. Die Frau vom rechten Paar trägt einen Sonnenschirm und ein langes weißes Sommerkleid. Dieses Outfit will so gar nicht in meine Vorstellung einer sowjetischen Werktätigen passen. Zusammen mit der Kolonnade/Колоннада wird der Eindruck eines elitären Ortes noch verstärkt. Auch die Männer tragen sommerlich helle Anzüge und tragen zur fröhlichen Stimmung bei. Weiter hinten im Bild kann man noch einige Menschen erahnen.

Kolonnade in Kislowodsk 1977
Auf der Karte von 1977 wirkt die Stimmung schon nüchterner. An der Kolonnade/Колоннада hat sich nicht viel geändert. Im Laufe der Zeit wurden elektrische Lampen installiert und beinahe sieht es so aus, als ob der obere Teil des Baus verputzt wurde – ich kann keine Fugen mehr erkennen. Ebenso wie bei der ersten Karte sieht man die Stadt im Hintergrund liegen, aber der Standpunkt des Fotografen war etwas erhöht und so hat man einen Aufblick auf die Kolonnade/Колоннада und gleichzeitig eine bessere Sicht auf die Stadt. Sie hat inzwischen einige Hochhäuser bekommen und einen dunklen Schornstein. Pittoresk ist diese Ansicht nicht mehr zu nennen. Kislowodsk/Кисловодск soll großstädtisch wirken.

Kislowodsk 1977 - Detail
Die beiden Personen auf der Ansichtskarte wirken auch nicht gerade mondän. Die Frau scheint mit einem Einkaufsbeutel in der Hand durch den Park zu eilen und der Mann lehnt an der Brüstung und wartet. Die beiden kennen sich nicht und der Rücken der Frau verdeckt halb den wartenden Mann. Sie sehen nicht aus wie Urlaubsgäste, eher wie Einheimische. Die Kolonnade/Колоннада wurde entzaubert und ihrer Ausstrahlung beraubt. Ist es á la Brigitte Reimann eine “Ankunft im Alltag”? Auf der Rückseite befindet sich ein familiärer Urlaubsgruß nach Dresden: “Herzlichst Eure Eltern”.

Kislowodsk 1982
Die 1982 veröffentlichte Karte wirkt dagegen wieder etwas gediegener. Mit goldener Prägeschrift! Die Stadt hat der Fotograf geschickt hinter den Bäumen versteckt. Nur ein kleiner Ausschnitt lässt eine Großstadt erahnen. Die Blumenrabatte und der übliche blaue Himmel erzeugen eine friedliche Stimmung. Obwohl die Kolonnade/Колоннада relativ sachlich fotografiert ist, wirkt sie monumental im Vergleich zu den Menschen und Bänken. Links neben der Kolonnade/Колоннада als Hauptaugenmerk sind mir die beiden älteren Herrschaften sofort aufgefallen. Sie stehen etwas steif inszeniert in der Gegend. Ist es ein Paar? Wirken sie nur neben den Säulen so klein oder sind sie tatsächlich geschrumpft.

Kislowdosk 1982 - Detail
Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass das Paar von der 1954er Ansichtskarte nochmal 30 Jahre später fotografiert wurde – ein Vorher/Nachher Effekt. Die Bäume sind größer geworden, die Stadt ist gewachsen und die Menschen sind gealtert. Lediglich die zeitlose Kolonnade/Колоннада ist gleich geblieben. Waren die Paare auf der ersten Karte ca. 30 Jahre alt, sind sie auf der dritten Karte um die 60 Jahre alt. Aus der eleganten Dynamik ist statische Anwesenheit geworden. Die helle fröhliche Sommerkleidung hat sich zu einer ältlichen dunklen Garderobe gewandelt. Aus den Körpern scheint die Kraft entwichen. Da schafft auch die goldene Aufschrift keine Verjüngung. Für mich ist die Karte von 1982 ein treffendes Abbild für die Jahre der “Stagnation/Эпоха застоя” unter Breschnew/Брежнев, der übrigens genau im Erscheinungsjahr dieser Ansichtskarte verstarb. Sein (Kurzzeit-)Nachfolger wurde Juri Andropow/Юрий Андропов) reiste alljährlich nach Kislowdosk zur Kur. Dort lernte er einen jungen aufstrebenden Parteisekretär kennen: Michail Gorbatschow/Михаил Горбачёв.
Thomas Neumann (Bearbeitung: Ben Kaden)
Bernd 1986 in Kiew/Киев
August 17, 2009
Das ist eine pittoreske Ansichtskarte Kiews/Киев aus dem Jahr 1986. Herausgegeben wurde sie vom Ministerium für Kommunikation der Sowjetunion/Министерство связи СССР in einer Auflage von 240000 Stück. Fotografiert hat I. Kropiwnitzki. Die Beschriftung ist zweisprachig in Russisch und Ukrainisch. Es handelt sich um das Kiewer Höhlenkloster/Киево-Печерская лавра. In Sowjetischer Benennung ist es ein sogenanntes “staatliches historisch-kulturelles Schutzgebiet, Architekturdenkmal des 17.-18. Jahrhunderts/государственный историко-культурный заповедник, Памятник архитектуры XVII-XVIII вв. Der atheistische Sowjetstaat bildet keine religiösen Orte ab, sondern Architekturdenkmale, die zum Kulturerbe gehören, aber musealisiert worden sind. In diesem Sinne hat das Kiewer Höhlenkloster/Киево-Печерская лавра noch Glück gehabt, denn weniger prominente Kirchen und Klöster sind komplett umgebaut oder gar abgerissen worden. Allerdings habe ich beobachtet, dass seit den 1970ern wieder vermehrt Kirchen auf Ansichtskarten zu sehen sind. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die verrückte Geschichte der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche/Храм Христа Спасителя, auf die ich mit einer anderen Ansichtskarte eingehen werde.

Das Kiewer Höhlenkloster
Das Foto für die Ansichtskarte ist durchschnittlich, die Druckqualität ganz gut. In den 80ern wurden für besondere Sehenswürdigkeiten oder für große Städte hochwertige Drucke verwendet. Im Vordergrund des Fotos steht eine Familie, deren Vater und Sohn dem Betrachter ihre Rücken zuwenden. Eine Frau mit einer großen Handtasche verlässt das Areal. Ihr schneller Schritt ist auf dem Foto eingefroren und wirkt etwas linkisch. Die anderen Personen auf dem Foto sind eher der Kirche zugewendet. Viele stehen im Schatten – es könnte eine Schulklasse sein. Es scheint ein heisser Tag gewesen zu sein. Wie auch schon auf der Ansichtskarte von Togliatti/Тольятти fallen mir die vielen rote Kleider auf. Und wieder sind es die Frauen, die es tragen. Männer in rot würden wahrscheinlich eher merkwürdig aussehen. Vielleicht hat es auch mit dem Verblassen von der Druckfarbe zu tun, dass immer das Rot besonders stark zurückbleibt.

Grüße aus Kiew nach Dresden
Das besondere an dieser Ansichtskarte ist allerdings die Rückseite: Am 5.9.1986 schrieb Bernd aus Saporoschje/Запорожье (heute Saporischja) nach Dresden: “Euch die strahlendsten Urlaubsgrüße von meiner Dnepr-Schiffsreise. Sind schon den 5. Tag unterwegs. Von Kiew bis Odessa sind es 1000 km. Alles ist wunderschön, komme aber trotzdem wieder! Bernd”. In Saporoschje/Запорожье hatte er vermutlich schon über die Hälfte seine Dnepr-Reise hinter sich. Der Poststempel verzeichnet den 8.9.1986.
Am oberen Rand der Ansichtskarte gibt es noch einen Vermerk zum Ort Kiew/Киев: “110 km bis Tschernobyl”. Das ist mehr als ein geografischer Hinweis. Als Bernd seine Reise um den 1.9.1986 in Kiew/Киев beginnt, gab es in Tschernobyl/Чернобыль etwa 4 Monaten zuvor eine der größten nuklearen Katastrophen der Welt. Der Block 4 des 1977 errichteten Kernkraftwerks explodierte. Dadurch wurde radioaktives Material über Zentral- und Nordeuropa getragen. Um das Kraftwerk herum sind große Gebiete verseucht und wurden evakuiert. Die Berichterstattung in der DDR war zu diesem Thema sowjetisch parteiisch und spielte die Katastrophe herunter. Gesundheitsschäden in der Bevölkerung wurden in Kauf genommen. Insofern wurden sicher auch keine Reisewarnungen ausgesprochen. Warum sollte man sich auch seine ersehnte Auslandsreise nehmen lassen. Allein durch die günstige Wetterlage hatte Bernd (und die Bewohner Kiews/Киев) Glück gehabt. Während und nach der Katastrophe am 26.4.1986 herrschte Südwind, und somit wurde die südlich gelegene Großstadt Kiew/Киев (knapp 3 Mill. Einwohner) weitestgehend von Verseuchungen verschont. Aus Bernds Worten entnehme ich nicht gerade Furcht oder Bedenken gegenüber dieser Katastrophe. Eher höre ich da einen gewissen Übermut. Vielleicht ist es auch jugendliches Draufgängertum. Ist diese Haltung der Falschinformation der DDR geschuldet? Oder ist es die Hoffnung, dass das “alles schon nicht so schlimm sei”? Im Rückblick erscheint mir eine Dnepr Schiffsreise zu dieser Zeit etwas verwegen.
Immerhin sieht und hört man die Strahlung nicht. Und so hat sich Bernd seinen Urlaub nicht vermiesen lassen. Bis Odessa/ Одесса waren es sicher noch 3 oder 4 Tage.
Thomas Neumann
Togliatti, die Autostadt
August 5, 2009
Ein tragischer Vorfall in Artek/Артек (vgl. hier) führt mich zu einem anderen Ansichtskarten-Set/Комплект. Palmiro Togliatti, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens, besuchte im August 1964 Artek/Артек. Am 13.8. erlitt er dort einen Schlaganfall, und am 21.8. stirbt er in einem Krankenhaus im nahegelegenen Jalta/Ялта.
Noch im gleichen Jahr wird in Artek/Артек ein Denkmal für ihn errichtet und die Stadt Stawropol a.d. Wolga/Ставрополь-Волжский nach Togliatti/Тольятти umbenannt. Drei Jahre später (1967) wird die Italienisch-Sowjetische Freundschaft weiter vertieft und in Kooperation mit Fiat der Bau des größten PKW Werkes der Sowjetunion in Togliatti/Тольятти begonnen. Schon 1970 nimmt das Wolga-Automobil-Werk/Волжский Автомобильный Завод “ВАЗ” seinen Betrieb auf. Der Fiat 124, Auto des Jahres 1966, wird als Grundmodell für die sowjetische Variante Schiguli/Шигули 2101 genommen. Im Ausland ist er ab 1974 unter dem Namen Lada 1200 bekannt. 1971 beträgt die Jahresproduktion 200.000 Wagen. Schon 1973 verdreifacht sich die Zahl.
Für Togliatti/Тольятти war das Automobilwerk ein großer Sprung nach vorne. Die Altstadt des ehemalige Stawropol a.d. Wolga/Ставрополь-Волжский wurde 1955 durch den Bau eines Wasserkraftwerkes überflutet. Mit dem neuen Autowerk kam nun ein neuer gigantischer Stadtteil hinzu. Der sogenannte Autowerk Bezirk/Автозаводский район, auch als Autostadt/Автоград bekannt, wurde komplett in Plattenbauweise errichtet. Die somit verbliebene Altstadt heisst nun Zentraler Bezirk/Центральный район und ist vorallem durch 50er und 60er Jahre Bauten geprägt. Zwischen den beiden Bezirken liegt viel Wald als Naherholungsgebiet/Зона отдыха. Allerdings braucht man mit dem Bus 20 Minuten, um vom einem Stadtteil zum anderen zu kommen. Übrigens ist die Autostadt Wolfsburg seit 1991 Partnerstadt von Togliatti/Тольятти.
In einem Ansichtskarten-Set/Комплект der Stadt aus dem Jahr 1972 (12 Karten, Planeta/Планета, Fotograf B. Krutzko/Б. Круцко) ist vom Autowerk und dem Autowerk Bezirk/Автозаводский район bis auf eine Hafenansicht (Verladung von ein paar Schigulis/Шигули) noch nichts zu sehen. Ich vermute, dass der neue Stadtbezirk noch im Bau war und noch nicht wirklich fotografisch repräsentativ war, um als Ansichtskarte herausgegeben werden zu können.

Ansichtskartenset Togliatti 1981
Das hier vorgestellte Ansichtskarten-Set/Комплект aus dem Jahr 1981 dagegen behandelt fast nur den Autowerk Bezirk/Автозаводский район und das Werk selbst. Das Set ist ebenso von Planeta/Планета herausgegeben, und die Fotos stammen von Ju. Buikowski/Ю. Быковский. Wie das Set aus 1972 stammt es aus einer Serie namens “Städte der UdSSR/Города СССР”. Während das erste Set russisch einsprachig ist, ist das zweite russisch/englisch/italienisch dreisprachig gehalten. Die Auflage/Тираж ist mit 370000 bzw. 400000 ungefähr gleich geblieben. Das 1981er Set hat das lange Ansichtskarten-Format (ca. 9x21cm) und laut Aufschrift darf man es nur in einem Umschlag verschicken/Отправлять только в конверте. Es beinhaltet 18 Karten und kostete mit 99 Kopeken mehr als das doppelte des 1972er Sets für 41 Kopeken.

Rückseite einer Ansichtskarte des Sets aus dem Jahr 1981
Beispielhaft habe ich meine 3 Lieblingskarten aus dem Set/Комплект herausgenommen. Von den insgesamt 18 des Sets/Комплект habe ich 14. Laut der aufgedruckten Liste fehlen eine Ansicht des Autowerkes/На испытательном треке ВАЗа, das Einkaufszentrum der Autostadt/Торговый центр Автогрвда, Ansichten “Neue Familie, Jugendwohnheim, Kinder der Autostadt/Новая семья, Молодежное общежитие, Дети Автогрвда” und Ansichten des Wolgastrands/На городском пляже.
Wenn man davon ausgeht, dass eine bestimmte Person die 4 Karten aus dem Set/Комплект entnommen hat, was könnte man daraus schlussfolgern? Vielleicht ein Ingenieur, der vom Werk und dem modernen sowjetisch städtischen Leben begeistert ist? Jemand, der sich sowohl für Autos als auch für die sozialen Aspekte und die Freizeitmöglichkeiten der Stadt interessiert?
Die drei ausgewählten Karten zeigen den Sportpalast/Дворец спорта (oben), das Kino “Saturn”, Strasse der Revolution/Кинотеатр “Сатурн”, Ул. Революционная (mitte) und die Hauptproduktionslinie des Autowerkes/На главном конвейере ВАЗа (unten). Das Panorama-Format wird in dem Set/Комплект nur selten wirklich ausgenutzt, obwohl man damit eine monumentale Wirkung erreichen könnte. Ich vermute, dass die damaligen Kleinbild-Fotos nicht soviel Qualität erbracht haben, dass man durch Abschneiden oben und unten ein Panorama erzeugen konnte. Echte Panorama-Fotografie habe ich bei den Sowjetischen Ansichtskarten selten gesehen. Meist wird das lange Format einfach in 2 Teile geteilt. So kann man auch mehr Motive unterbringen.
In der Ansicht des Sportpalastes/Дворец спорта kommt das Panorama sehr gut zur Geltung. Der Himmel ist groß, das Gebäude dynamisch-wuchtig und das Feld davor weit. Ein diagonaler Trampelpfad zeugt von aneignender Nutzung sowjetisch rechtwinkliger Stadtplanung. Sicher hat der Fotograf oder der Verlag mit sich gerungen: Eine gute Abbildung der Architektur und eine lebendige Szene mit Menschen contra unerwünschtem und unsowjetischem Trampelpfad. Vielleicht spielte die Überlegung auch keine Rolle, da die in der Realität vorhandenen Trampelpfade mittlerweile im Sozialistischen Realismus angekommen waren. Die sichtbare Realität ist immer wieder ein Problem für ideologische Fotografie.
Der Sportpalast/Дворец спорта ist sicher in den 70ern erbaut worden. Auf der Karte ist der Architekt nicht erwähnt. Interessant finde ich die kleinen verstreuten Menschen, die auf dem Panorama etwas verloren wirken und den Sportpalast/Дворец спорта gigantisch groß erscheinen lassen. Der Trampelpfad sagt viel aus über die Sowjetische Befindlichkeit: Am Menschen vorbei geplant. Dennoch haben die Leute den kürzesten oder bequemsten Weg zu ihren Zielen gefunden.
Auffallend sind die roten Jacken und Kleider der abgebildeten Frauen. Ob vor dem Sportpalast/Дворец спорта oder vor dem Kino/Кинотеатр, Frau trägt rot. War rot gerade angesagt? Oder soll es tatsächlich die staatstragende Farbe wiedergeben? Oder ist es Zufall? Rot ist ebenso das gläserne Gebäude auf der Strasse der Revolution/Ул. Революционная. Und natürlich die Schigulis/Шигули auf dem Produktionsband. Das scheint kein Zufall zu sein.

Sportpalast in Togliatti - Detail
Das Kino “Saturn”/Кинотеатр “Сатурн” ist wie der Sportpalast/Дворец спорта ein Betonklotz, aber die seitliche Fassade sieht recht verwegen und spacig aus. Und so verweisen der Name Saturn und das Emblem am Gebäude auch auf Weltraum und Fortschritt und das moderne Zeitalter. Gut gefällt mir auch die klare und unmissverständliche Aufschrift “Kino/Кинотеатр”. Schade, dass man nicht erkennen kann, welcher Film gerade läuft.

Kino in Togliatti - Detail
http://en.wikipedia.org/wiki/Tolyatti
Thomas Neumann