Die dritte der jüngst beschriebenen Ansichtskarten aus Kislowodsk/Кисловодск wurde 1982 herausgegeben und im November desselben Jahres starb Leonid Iljitsch Breschnew/Леонид Ильич Брежнев, der damalige Generalsekretär der KPdSU. Schon 8 Tage nach seinem Tod wurde ihm zu Ehren eine Stadt benannt. Es traf die Stadt Nabereschnyje Tschelny/Набережные Челны.

Bis 1988 hieß dieser Ort dann Breschnew/Брежнев, allerdings wurde der übergestülpte Name im Zuge der Perestroika schnell wieder abgelegt. Die Bewohner konnten vermutlich nicht viel mit dem Politikernamen anfangen, stand er doch für die Stagnation in der Sowjetunion. Außerdem kann Nabereschnyje Tschelny/Набережные Челны auf eine eigene lange Geschichte seit dem Mittelalter zurückblicken. Die Stadt liegt in der autonomen Republik Tatarstan/Республика Татарстан, die innerhalb Russlands als besonders eigenständig und stolz gilt.

Dennoch ist das heutige Nabereschnyje Tschelny/Набережные Челны eine typische Sowjetische Planstadt der Chruschtschow/Хрущёв Ära. Insofern ist es verständlich, dass gerade dieses erfolgreiche Industrie- und Siedlungsprojekt für einen Heldennamen wie Breschnew/Брежнев auserkoren wurde.

Die Entwicklung fing langsam an. Erst 1930 bekommt Nabereschnyje Tschelny/Набережные Челны mit 9300 Einwohnern das Stadtrecht zugesprochen. In den 1960ern wohnen dort etwa 30.000 Menschen. Ende der 60er Jahre verändert ein Beschluss der Partei das Schicksal der Stadt. Die Sowjetunion brauchte ein großes modernes LKW Werk. Gesagt, geplant, getan. Von da an ging es rapide voran.

Im Jahr 1976 werden die ersten LKWs namens KAMAZ in Nabereschnyje Tschelny/Набережные Челны produziert. Auch dieses Projekt birgt einige Superlative. Seinerzeit war es das flächenmäßig größte Automobilwerk der Welt. Ebenfalls gigantisch waren die Ziele der Stadtplanung. Die Bevölkerung sollte mehr als verzehnfacht werden. So wuchs die Stadt dann von den 70ern zu den 80ern von 30.000 bis auf 500.000 Einwohner an. Das ließ sich natürlich nur in massiver Großplattenbauweise und zügiger Bautempo bewerkstelligen.

Die Neustadt gliedert sich in Wohnkomplexe, die nummeriert aneinandergereiht zwischen Werk und dem Fluss Kama/Кама liegen. Ökonomisch und flächenmäßig Vorrang hatte der Aufbau der Industrie, die für damalige Verhältnisse sehr modern und effizient war. Neben LKWs wurden Motoren, Traktoren, Kleinwagen, Panzer u.ä. hergestellt. Trotz aller Umwandlungen in den 90er Jahren arbeiten auch heute noch 50.000 Menschen im KAMAZ Werk. KAMAZ LKWs nehmen erfolgreich an der Rallye Paris-Dakar teil und inzwischen hat die Daimler AG einen 10 %igen Anteil an KAMAZ erworben.

Набережные Челны / Брежнев

Набережные Челны (1981) / Брежнев (1983)

Die heutige Betrachtung bezieht sich auf eine Karte aus dem Jahr 1981 mit dem Stadtnamen Nabereschnyje Tschelny/Набережные Челны und eine zweite aus dem Jahr 1983 und mit dem Stadtnamen Breschnew/Брежнев. Beide wurden vom Fotografen W. Gasparjantz/В. Гаспарянц aufgenommen und durch das Ministerium für Kommunikation der Sowjetunion/Министерство связи СССР herausgegeben.

Das Кинотеатр "Чулпан

Die erste Karte zeigt das Kino “Tschulpan”/Кинотеатр “Чулпан”. Auf den ersten Blick ein ungewöhnlicher Name für ein Sowjetisches Kino, aber es ist ganz einfach das Tatarische Wort für “Venus”. Vermutlich geht es weniger um die Göttin der Liebe als um die kühne Erforschung des Weltraums. Zu friedlichen Zwecken. Das Mosaik an der Gebäudeseite vermag diese Interpretationsfrage nicht völlig zu bestätigen. Die Bildsprache deutet jedoch in Richtung Weltraum. Andererseits könnte die abgebildete junge Frau auch aus einer anderen Mythologie entstammen. Immerhin war die erste Sonde, die erfolgreich auf der Venus landete eine Sowjetische.

Das Kino ist ein Sowjetischer Standardbau, der durch Verzierungen, Metallblenden und eben den Tatarischen Namen lokal verankert wurde. Die Bauform Plattenbau erweist sich also durchaus als anpassbar. Vermutlich wird man ganz ähnlichen Bauten mit jeweils anderer Verzierung im Baltikum, im Kaukasus oder in Zentralasien finden.

Die Birken vor dem Kino “Tschulpan”/Кинотеатр “Чулпан” sind jung und wurden wahrscheinlich nach dem Bau des Kinos dort angepflanzt. Soweit ich erkennen kann, sind auch die vorbei eilenden Menschen jung. Eine typische, dynamische “Neue Stadt”. Ob die Leute direkt ins Kino gehen, ist nicht klar. Auf der Ansichtskarte ist der Eingang des Kinos nicht zu sehen. Welche Filme laufen, ist nicht zu lesen. In den Schaufenstern wird etwas ausgestellt. Es sieht aus wie kleine Bilder, vielleicht sind es einfach Informationen zu den laufenden Filmen.

Menschen am Schaufenster

Menschen am Schaufenster

Die zweite Karte zeigt den Kulturpalast “Energetik”/Дворец культуры “Энергетик”. Ein massives Gebäude, dass im Sonnenlicht strahlt. Ein “Energetik” ist jemand, der in der Energiewirtschaft arbeitet. Der Titel klingt nach Dynamik, nach Antrieb, buchstäblich energetisch.

Kulturpalast in Breschnew

Kulturpalast in Breschnew

Der Panzerkreuzer Aurora auf dem Plakat erinnert an die Große Sozialistische Oktoberrevolution und erscheint mir ganz passend zu dem Palast, der selbst an ein Schiff erinnert, das sich seinen Weg bahnt. Durch die Gliederung in verschiedene Kuben wirkt das Gebäude aufgelockert. An der Stirnseite gibt es eine annähernd symmetrische Front und einen durch eine Treppe erhöhten Eingang. Allerdings ist die Längsseite die Hauptfront und  dementsprechend befindet sich dort auch der große Haupteingang. Entworfen wurde das Gebäude von einem Architektenteam aus dem Baltikum. 1973 wurde es eingeweiht.

Die Kombination von traditioneller symmetrischer Tempelfront und moderner großzügiger Hauptfront finde ich eine interessante Lösung. Dennoch bleibt die Frage, was in diesem großen Gebäude passiert. Wird dort der Kulturplan erstellt, umgesetzt oder kontrolliert? Die Bezeichnung Kulturpalast/Дворец культуры wurde vermutlich in der Sowjetunion nach der Revolution geprägt. Nach den Informationen der Wikipedia gab es 1988 in der gesamten Sowjetunion etwa 137000 solcher Paläste.

Im Moment der Aufnahme wirkt der Kulturpalast “Energetik”/Дворец культуры “Энергетик” nicht gerade belebt. Der große Vorplatz wirkt öde. Wie auf vielen anderen Ansichtskarten auch, hatten der Fotograf und/oder der Verlag den Wunsch, das komplette Gebäude auf dem Foto zu erfassen. Als ob allein die fotografierte Gesamtheit alles über das abgebildete Objekt aussagen würde! Diese nüchterne Sachfotografie scheint sich jeglicher Subjektivität zu entziehen, aber erzeugt im gleichen Moment eine große Langeweile. Vielleicht sollte man es als eine Inventarisierung der Gebäude der Sowjetunion betrachten? Dennoch finde ich es merkwürdig, dass die in Propaganda geübten Sowjetischen Instanzen gerade bei den Ansichtskarten die Wirkungskraft der Fotografie so wenig berücksichtigt haben.

Als historisches Dokument ist es natürlich interessant, denn durch diese Sachfotografie kann das Bild der Sowjetunion klarer gezeichnet werden. So erfahren wir, dass der Vorplatz des Kulturpalastes “Energetik”/Дворец культуры “Энергетик” aus groben Betonplatten gelegt wurde. Dazwischen wächst das Unkraut und für Fußgänger scheint es nicht besonders bequem zu sein. Ein Trampelpfad kürzt die vorgegebene Wegstrecke ab. Auf der Ansichtskarte selbst kann ich mit Mühe fünf Personen zählen, und ich meine, es sind alles Frauen.

Passanten am Kulturpalast

Passanten am Kulturpalast

Eine etwas fröhlichere und lebendigere Geschichte des Kulturpalastes “Energetik”/Дворец культуры “Энергетик” kann man auf der russischen Website zum Objekt nachlesen.

Thomas Neumann (Bearbeitung: Ben Kaden)

– Набережные Челны bei Google Maps

Nabereschnyje Tschelny in der Wikipedia

Kamaz in der Wikipedia

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Diese Karte ist mir ob ihrer Schlichtheit und Klarheit aufgefallen. Das dünne lapidare Papier und die nicht gerade berauschende Abbildungsqualität machten mich Neugierig. Und tatsächlich hat sie etwas Besonderes. Sie wurde von einem Артель ФОТО/FOTO Genossenschaft in einer sehr kleinen Auflage von 1880 Exemplaren im Jahre 1956 herausgegeben. Produziert wurde sie als sogenannte “Echt-Foto-Postkarte” (siehe dazu auch Erasmus Schröters Buch über die Echt-Foto-Postkarten der DDR). Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, gab es die FOTO Genossenschaften/Артель ФОТО nur bis in die 50er Jahre hinein. Das waren Zusammenschlüsse von lokalen Fotografen, die auf einfache Art und Weise Ansichtskarten in geringer Auflage herstellten. Meist arbeiteten sie in Touristengebieten (Krim/Крим, Sotschi/Сочи, Kaukasus/Кавказ), wo sie die ohnehin raren Ansichtskarten problemlos verkaufen konnten. In der Regel waren es Amateure, die sich auf diese Weise in der Nachkriegs-Sowjetunion Geld dazuverdienten.

Артель ФОТО 1956

Артель ФОТО 1956

Manchmal taucht auch die Bezeichnung Артель инвалидов/ Invaliden Genossenschaft auf. Das waren Kriegsversehrte, die sich eine Jobmöglichkeit schufen. Insofern sind die meisten der von FOTO Genossenschaften/Артель ФОТО hergestellten Ansichtskarten etwas verkitscht, oft sind es auch Grußkarten mit einem Spruch versehen oder süße Aufnahmen von Kindern oder Katzen. Zum Teil wurden sie koloriert. Trotz der geringen Qualität dieser Ansichtskarten muss man feststellen, dass sie sich an marktwirtschaftlichen Aspekten, also an der Verkaufbarkeit orientierten, was man von späteren farbigen “typisch” Sowjetischen Ansichtskarten nicht unbedingt sagen kann.
Gegen Ende der 50er Jahre scheinen die FOTO Genossenschaften/Артель ФОТО zu verschwinden. Die stärkere Zentralisierung der Ansichtskarten-Verlage in der Sowjetunion und ein ausgeprägteres Bewusstsein für die Wirkungsmacht von Ansichtskarten mögen Gründe zur strengeren Kontrolle der FOTO Genossenschaften/Артель ФОТО gewesen sein, die am Ende zu deren Schließung führte. Vermutlich wurde auch die genossenschaftliche Eigeninitiative der beteiligten Leute argwöhnisch von “oben” beäugt und mit dem Argument der fehlenden Professionalität sicherheitshalber gestoppt.

Interessant ist ein Preisvergleich. Die 1956 von der FOTO Genossenschaft/Артель ФОТО herausgegebene Karte war mit 75 Kopeken recht teuer. Eine ebenso s/w Karte von Archangelsk/Архангельск aus dem Jahr 1961 kostete nur 8 Kopeken (Auflage 20000 Stück, hergestellt in fernen Rostow a. Don/Ростов на Дону!). Und die 1966 vom großen Verlag “Sowjetischer Künstler/Советский художник” publizierte Karte kostete nur 1 Kopeke. Durch die Zentralisierung wurde nicht nur eine stärkere Überwachung ermöglicht, sondern es ergaben sich auch Synergie-Effekte und damit eine höhere Effizienz.

Die hier besprochene Ansichtskarte aus Archangelsk/Архангельск fällt etwas aus dem üblichen FOTO Genossenschaften/Артель ФОТО Rahmen heraus. Archangelsk/Архангельск ist keine Touristenstadt und die Ansicht zeigt keine berühmte Sehenswürdigkeit. Ich vermute, dass es von den offiziellen Ansichtskarten-Verlagen keine oder wenige Ansichtskarten von Archangelsk/Архангельск gab und sich deshalb die lokalen Fotografen und Verleger engagierten und eine FOTO Genossenschaft/Артель ФОТО gründeten.

Archangelsk/Архангельск

Uferpromenade im Archangelsk der 1950er Jahre

Obwohl Archangelsk/Архангельск eine sehr alte Stadt ist, liegt sie doch sehr weit im Norden und irgendwie weit in der Provinz. Sie hatte 1989 etwa 415000 Einwohner, jetzt noch etwa 350000. Die nördliche Dwina/Северная Двина fliesst durch die Stadt und mündet in der Nähe in das Weiße Meer. Seit dem Mittelalter war Archangelsk/Архангельск deshalb eine wichtige Hafenstadt und Handelsstation. Und so taucht die nördliche Dwina/Северная Двина dementsprechend oft auf Ansichtskarten der Stadt auf. Wie auch auf der hier vorliegenden Karte.
“Uferpromenade/Набережная” ist als Titel der Ansichtskarte auf der Rückseite angegeben. In schönster Handschrift hat jemand noch zusätzlich notiert: “Das ist unsere Stadt. Die Uferpromenade unseres Flusses Nördliche Dwina/Это наш город. Набережная нашей реки Северной Двины”. Der Schreiber/die Schreiberin dieser Zeilen scheint jedenfalls stark verbunden zu sein mit der Stadt und dem Fluss. Alles ist kollektives Gut, alles ist “unser/наш”.

Das ist vielleicht auch der Geist des Monuments auf der Vorderseite. Es scheint ein durchschnittliches Monument des “Neuen Menschen” zu sein. Das Gesicht des Mannes erinnert mich etwas an Juri Gagarin/Юрий Гагарин, aber ich bin mir nicht sicher. Der Mann, ein Arbeiter, vielleicht auch ein Ingenieur grüßt den Betrachter mit seiner kräftigen rechten Hand. Dynamisch setzt er ein Bein leicht nach vorn und kommt so auf den Betrachter zu. Die Ärmel sind hochgekrempelt und auf seiner linken Schulter sitzt ein junges Mädchen. Ob es seine Tochter sein soll, weiß man nicht. Sie lässt eine Taube, eine Friedenstaube steigen. Die beiden haben für mich weniger eine familiäre Bindung, eher scheinen beide gesellschaftlich besetzt und engagiert zu sein. Der Mann steht stabil und zupackend in der Welt und schultert zudem das Mädchen, was sich für den Frieden einsetzt. Mit dem Symbol der Taube schließt sich interessanter Weise der Bogen zum Stadtnamen Archangelsk/Архангельск, was Erzengelstadt bedeutet. Die Weihnachtsbotschaft “Friede auf Erden” und das kommunistische “миру мир” liegen eben dicht beieinander.
Junge Birken säumen die beiden ordentlichen Fußwege auf der Uferpromenade. Weiter hinten leuchtet noch ein weißer Sockel. Leider erkennt man nicht das darauf stehende Monument. Die Vermutung liegt Nahe, dass es die zum Mann und Kind dazugehörige Frau ist. Eine sozialistische Familie.

Archangelsk - Monument und Spaziergänge

Archangelsk - Monument und Spaziergänger an der Uferpromenade

Am linken Rand der Ansichtskarte sieht man eine Person. Er hat einen langen dunklen Mantel an und einen Hut auf dem Kopf. Den Rücken zu uns gewandt, lehnt er am Geländer und schaut auf den Fluß. Neben dem heroischen Monument wirkt er klein und düster. Der “Neue Mensch” blickt nach vorne, der Spaziergänger nach hinten auf den ewigen Lauf des Flusses.

Auf späteren Ansichtskarten von Archangelsk/Архангельск (aus meiner Sammlung) taucht dieses Monument nicht mehr auf. Wurde es unpopulär? Oder gar abgebaut? Das Klima ist hart dort im Norden und das Monument scheint nicht aus richtig haltbarem Material gebaut zu sein. Auch auf der wiki Seite der “Uferpromenade/Набережная” es nicht verzeichnet.

http://de.wikipedia.org/wiki/Archangelsk

http://ru.wikipedia.org/wiki/Набережная_Северной_Двины

Archangelsk bei Google Maps

“Für Frantischek – Zur Erinnerung an Galina/На память Франтишеку от Галины” wurde in sauberer Schönschrift auf die Rückseite der Ansichtskarte geschrieben. Kommt Galina aus Tetjucha/Тетюха? War Frantischek dort zu Besuch? Waren es Schüler, Studenten, Erwachsene? Stammt die Karte aus einem persönlichem Treffen oder aus einer offiziellen Sowjetisch-Tschechoslowakischen Brieffreundschaft? Hat Frantischek geantwortet?

Ansichtskarte Tetjuscha - Rückseite

Ansichtskarte Tetjuscha - Rückseite

Die Karte wurde 1961 in einer Auflage von 20000 in dem Primorski Buchverlag/Приморское книжное издательство herausgegeben. Das Foto stammt von N. Nasarow/Н. Назаров und gedruckt wurde sie in Wladivostok/Владивосток. Herausgegeben wurde die Karte vor der Umbenennung von Tetjucha/Тетюха in Dalnegorsk/Далнегорск im Jahre 1972. Aufgrund der politischen Spannungen zwischen der Sowjetunion und China Ende der 60er Jahre wurden aus dem Chinesisch stammende geografische Bezeichnungen in dieser Zeit russifiziert. So wurde auch der Fluss Tetjuche/Тетюхe in Rudnaja/Рудная umbenannt.

Kulturpalast Tetjucha

Kulturpalast Tetjucha

Zu sehen ist der Kulturpalast der kleinen Stadt im Fernen Osten. Im Vordergrund fliesst vermutlich der Fluss Tetjuche/Тетюхe. Der Kulturpalast ist ein typischer Bau der Stalinzeit im Neoklassizistischem Look. Die Front bildet einen Querriegel, vor dem sich eine Säulenfront mit Tympanon mit einem eingelassenen Dreieck befindet. Hinter dem Vordergebäude ist ein Längsriegel, der sicherlich als Mehrzweckraum für Kino, Versammlung, Theater fungierte. Zwischen den Frontsäulen befinden sich 2 Skulpturen – es könnte ein Mann und eine Frau sein. Im Eingangsbereich sind Plakate angebracht und oben auf dem Dach ist eine Antenne oder ein überdimensionerter Blitzableiter. Vielleicht gab es einen Zirkel “Junger Funker”. Immerhin liegt Tetjucha/Тетюха ziemlich abgelegen – etwa 500 km von Wladivostok/Владивосток entfernt. Vor dem Palast liegt ein solide umzäunter Park mit einem Monument. Es ist eine Büste, die in Richtung Kulturpalast schaut. Soweit man es auf der Karte erkennen und aus der Kopfform schließen kann, scheint es ein männlicher Held zu sein. Ob es Lenin ist oder eine lokale Persönlichkeit?

Das Denkmal könnte Jules Bryner/Юлий Иванович Бринер (1849 Möriken, Schweiz-1920 Wladivostok) gewidmet sein. Mit 16 Jahren verliess er sein Schweizer Heimatdorf. Als Abenteurer und später Kaufmann kam er über Shanghai und Yokohama in den 1880ern nach Wladivostok/Владивосток. Er heiratet die Tochter eines Mongolischen Khans mit dem russifizierten Namen Kurkutowa/Куркутова. Um 1908 gründet er den Blei- und Zinkbergbau in der kleinen Siedlung Tetjucha/Тетюха. Er beschäftigt sich außerdem mit Holzverarbeitung auf Sachalin und dem Kohlebergbau. Als Mitglied der Russischen Geografischen Gesellschaft, Gründer der Ussuri Bergbau Aktiengesellschaft und Gründer eines Museums für das Amur-Gebietes war er wesentlich in die wirtschaftliche Entwicklung dieser Region involviert. Eine Strasse in Wladivostok/Владивосток ist nach ihm benannt. Nach seinem Tod übernimmt sein Sohn Boris die Geschäfte. Noch bis 1931 bleiben seine Betriebe im Privatbesitz, was für die junge Sowjetunion unüblich ist. 1930 wird Tetjucha/Тетюха zur Stadt. 1959 hat sie 17900 Einwohner, 1989 – 49000, 2007 – 37000.

Zum Sowjetischen Erbe gehört leider, dass das heutige Dalnegorsk/Далнегорск zu den 30 verschmutztesten Orten der Welt zählt.
Boris Bryner/Борис Бринер und seine Frau bekommen 1920 in Wladivostok/Владивосток einen Sohn namens Yul Bryner/Юл Борисович Бринер. Die Wirren der Zeit und familiäre Umstände bringen den jungen Yul Bryner/Юл Борисович Бринер über Charbin nach Paris und weiter nach Hollywood. In der USA kommt ein zweites N in den Namen. Yul Brynner, der berühmte Schauspieler, betritt die Bühnen der Welt und ist ein gefragter Kinostar, der die Frauen betört und mit seinem markanten Auftreten viele Filme prägt. Um seiner fernöstlichen Herkunft ranken sich diverse Legenden.

1967 besucht er Möriken, den Geburtstort seines Großvaters, der fast genau 100 Jahre vorher das kleine Schweizer Dorf verlassen hatte. Ob Yul Brynner gelegentlich das Sowjetische Tetjucha/Тетюха besucht hat, ist eher unwahrscheinlich. Allerdings hat wiederum sein Sohn Rock Brynner Tetjucha/Тетюха bzw. Dalnegorsk/Далнегорск beehrt.

Thomas Neumann

http://en.wikipedia.org/wiki/Dalnegorsk

http://de.wikipedia.org/wiki/Yul_Brynner

Tetjucha/Dalnegorsk bei Google Maps