Das ist eine pittoreske Ansichtskarte Kiews/Киев aus dem Jahr 1986. Herausgegeben wurde sie vom Ministerium für Kommunikation der Sowjetunion/Министерство связи СССР in einer Auflage von 240000 Stück. Fotografiert hat I. Kropiwnitzki. Die Beschriftung ist zweisprachig in Russisch und Ukrainisch. Es handelt sich um das Kiewer Höhlenkloster/Киево-Печерская лавра. In Sowjetischer Benennung ist es ein sogenanntes “staatliches historisch-kulturelles Schutzgebiet, Architekturdenkmal des 17.-18. Jahrhunderts/государственный историко-культурный заповедник, Памятник архитектуры XVII-XVIII вв. Der atheistische Sowjetstaat bildet keine religiösen Orte ab, sondern Architekturdenkmale, die zum Kulturerbe gehören, aber musealisiert worden sind. In diesem Sinne hat das Kiewer Höhlenkloster/Киево-Печерская лавра noch Glück gehabt, denn weniger prominente Kirchen und Klöster sind komplett umgebaut oder gar abgerissen worden. Allerdings habe ich beobachtet, dass seit den 1970ern wieder vermehrt Kirchen auf Ansichtskarten zu sehen sind. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die verrückte Geschichte der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche/Храм Христа Спасителя, auf die ich mit einer anderen Ansichtskarte eingehen werde.

Das Kiewer Höhlenkloster

Das Kiewer Höhlenkloster

Das Foto für die Ansichtskarte ist durchschnittlich, die Druckqualität ganz gut. In den 80ern wurden für besondere Sehenswürdigkeiten oder für große Städte hochwertige Drucke verwendet. Im Vordergrund des Fotos steht eine Familie, deren Vater und Sohn dem Betrachter ihre Rücken zuwenden. Eine Frau mit einer großen Handtasche verlässt das Areal. Ihr schneller Schritt ist auf dem Foto eingefroren und wirkt etwas linkisch. Die anderen Personen auf dem Foto sind eher der Kirche zugewendet. Viele stehen im Schatten – es könnte eine Schulklasse sein. Es scheint ein heisser Tag gewesen zu sein. Wie auch schon auf der Ansichtskarte von Togliatti/Тольятти fallen mir die vielen rote Kleider auf. Und wieder sind es die Frauen, die es tragen. Männer in rot würden wahrscheinlich eher merkwürdig aussehen. Vielleicht hat es auch mit dem Verblassen von der Druckfarbe zu tun, dass immer das Rot besonders stark zurückbleibt.

Grüße aus Kiew nach Dresden

Grüße aus Kiew nach Dresden

Das besondere an dieser Ansichtskarte ist allerdings die Rückseite: Am 5.9.1986 schrieb Bernd aus Saporoschje/Запорожье (heute Saporischja) nach Dresden: “Euch die strahlendsten Urlaubsgrüße von meiner Dnepr-Schiffsreise. Sind schon den 5. Tag unterwegs. Von Kiew bis Odessa sind es 1000 km. Alles ist wunderschön, komme aber trotzdem wieder! Bernd”. In Saporoschje/Запорожье hatte er vermutlich schon über die Hälfte seine Dnepr-Reise hinter sich. Der Poststempel verzeichnet den 8.9.1986.

Am oberen Rand der Ansichtskarte gibt es noch einen Vermerk zum Ort Kiew/Киев: “110 km bis Tschernobyl”. Das ist mehr als ein geografischer Hinweis. Als Bernd seine Reise um den 1.9.1986 in Kiew/Киев beginnt, gab es in Tschernobyl/Чернобыль etwa 4 Monaten zuvor eine der größten nuklearen Katastrophen der Welt. Der Block 4 des 1977 errichteten Kernkraftwerks explodierte. Dadurch wurde radioaktives Material über Zentral- und Nordeuropa getragen. Um das Kraftwerk herum sind große Gebiete verseucht und wurden evakuiert. Die Berichterstattung in der DDR war zu diesem Thema sowjetisch parteiisch und spielte die Katastrophe herunter. Gesundheitsschäden in der Bevölkerung wurden in Kauf genommen. Insofern wurden sicher auch keine Reisewarnungen ausgesprochen. Warum sollte man sich auch seine ersehnte Auslandsreise nehmen lassen. Allein durch die günstige Wetterlage hatte Bernd (und die Bewohner Kiews/Киев) Glück gehabt. Während und nach der Katastrophe am 26.4.1986 herrschte Südwind, und somit wurde die südlich gelegene Großstadt Kiew/Киев (knapp 3 Mill. Einwohner) weitestgehend von Verseuchungen verschont. Aus Bernds Worten entnehme ich nicht gerade Furcht oder Bedenken gegenüber dieser Katastrophe. Eher höre ich da einen gewissen Übermut. Vielleicht ist es auch jugendliches Draufgängertum. Ist diese Haltung der Falschinformation der DDR geschuldet? Oder ist es die Hoffnung, dass das “alles schon nicht so schlimm sei”? Im Rückblick erscheint mir eine Dnepr Schiffsreise zu dieser Zeit etwas verwegen.

Immerhin sieht und hört man die Strahlung nicht. Und so hat sich Bernd seinen Urlaub nicht vermiesen lassen. Bis Odessa/ Одесса waren es sicher noch 3 oder 4 Tage.

Thomas Neumann

Kiew bei Google-Maps

http://de.wikipedia.org/wiki/Katastrophe_von_Tschernobyl

Advertisement