Das Café Kristall in Bijsk
September 26, 2009
Diese Ansichtskarte von Bijsk/ Бийск gehört zu meinen Lieblingen. Zu sehen ist das Café “Kristall” / Кафе “Кристалл”. Die Karte wurde 1971 bei Planeta / Планета herausgegeben und von B. Podgornui / Б. Подгорный fotografiert.

Bijsk / Kristall
Kristallklar steht dieser Pavillon auf einem Platz am Rande der Stadt. Dahinter beginnt der Wald. Obwohl das Café die Hauptattraktion der Karte sein soll, befindet es sich rechts unten an die Seite des Fotos gedrängt. Die Kiefern sind dominant und der Moskwitsch / Москвич stiehlt dem Pavillon die Show. Auch lenken die vielen vor dem Café sitzenden Leute vom eigentlichen Objekt ab. Dennoch ist der Pavillon stark und behauptet sich. Stolz prangt der Name “Kristall” / “Кристалл” über dem Eingang. Es scheint ein Kubus aus Glas und Metall zu sein. Der Sockel und die Rückseite sehen gemauert aus. An ein paar Stellen scheint der Pavillon nicht ganz so ordentlich verarbeitet zu sein. Nach den langen Jahren, in denen neoklassische Kulturtempel mit pompösen Säulen gebaut wurden, ist an dem Café “Kristall” / Кафе “Кристалл” der Wunsch nach Leichtigkeit, Transparenz und Moderne abzulesen. Auch wenn die Umsetzung nicht ganz sauber gewesen sein mag, kann man doch sehen, dass es Architekten und Entscheidungsträger gab, die moderne Formen und Materialien nach Bijsk bringen wollten.

Bijsk - Detail
So verspricht das Glas Transparenz, aber auf der Karte kann man leider nicht ins Innere des Cafés schauen. Rechts im Fenster scheint etwas zu hängen. Soll das ein Wandteppich sein? Immerhin steht der Name “Kristall” / “Кристалл” für die gewünschte Reinheit der Form und des Ausdrucks. Die Sowjetunion als ein Reich von Ideen, wobei die tatsächliche Verwirklichung oft in den Hintergrund trat. In dieser Hinsicht musste die Fotografie als ein Medium, das mit Sichtbarem arbeitet, gelegentlich erfinderisch sein.
Ebenso wie der Pavillon wirkte der Moskwitsch 408 / Москвич 408 (gebaut von 1964 bis 1975) damals modern. Die Sonne erleuchtet ihn, aber trotzdem erscheint er nicht dynamisch. Durch die eingeschlagenen Vorderräder verbreitet er eine Unruhe, die mir gegenüber der überladenen Hinterachse merkwürdig vorkommt. Auch stört er die Atmosphäre des Vorplatzes des Café “Kristall” / Кафе “Кристалл”, in der der Pavillon noch erhabener wirken würde. Obwohl dort keine Strasse entlangführt, dreht der Moskwitsch / Москвич dort seine Runde. Vielleicht soll es Lebendigkeit ausdrücken?
Der “Kristall” / “Кристалл” Kubus strahlt ein städtisches Flair aus, was mit dem dahinter liegenden Wald nicht wirklich korrespondiert. So wirkt das Café relativ isoliert in der Landschaft. Für mich schimmert da wieder der Neue-Stadt-Mythos durch. Die fortschrittlichen Menschen erobern sich ganz kühn die sibirische Weite und bauen sich mit modernsten Materialien ihre Welt von morgen. Wahrscheinlich ist es banaler und das Café gehört zu einem der zahlreichen Touristenkomplexen der Stadt, denn Bijsk ist der Ausgangspunkt in die Berge des Altai. Auf jeden Fall sitzen eine Menge Leute davor und man weiß nicht, was sie dort eigentlich machen. Wie ein Straßencafé sieht es nicht aus. Weder trinken sie noch essen sie irgendetwas. Sie sitzen auf langen und farbenfrohen Bänken und schauen auf den Moskwitsch. Ein Paar geht in Richtung Café und kehrt dem Betrachter den Rücken zu. Soll man so eine Art Foto Schnappschuss nennen? Warum wurde dieses Bild ausgewählt? Gibt es eine Message? Vielleicht ist es gerade die Ungelenkheit und Unbestimmtheit der Aufnahme, die für mich den Reiz dieser Karte ausmacht. Ebenso wie bei dem Café “Kristall” die pragmatische Alltagsnutzung die Reinheit der architektonischen Idee überschattet, scheint bei dem Foto die Komposition der gerade vorgefundenen Situation geschuldet zu sein. Ist es tatsächlich eine Momentaufnahme des Sowjetischen Lebens?
Die Ansichtskarte gehört zu einem Set / Комплект aus der Reihe “Städte der UdSSR” / “Города СССР”. Die Auflage beträgt 400000. Das Café “Kristall” hat seinen Platz neben dem Hotel Wostok, dem Lenin Denkmal, dem Polytechnischen Institut, dem Denkmal für die Gefallenen des 2. Weltkrieges, dem Stadt-Theater, dem Touristenkomplex Altai, der Flussanlegestelle, dem Kulturpalast der Chemiker, dem Kulturpalast der Bauarbeiter, dem Heimatkundemuseum und Ansichten vom Fluss Bija, der Tolstoi Strasse und des Komsomol Boulevards gefunden.
Wurde das Café wegen seiner Beliebtheit oder gar wegen seiner Architektur in das Set aufgenommen? Neben modernen Gebäuden der 60er Jahre sind in dem Set auch Ansichten von historischen Häusern aus dem 19. Jahrhundert zu finden. In diesem Jahr (2009) feiert Bijsk / Бийск immerhin ihr 300 jähriges Jubiläum. Sie ist mit 230 Tausend Einwohnern die zweitgrößte Stadt im Gebiet Altai und gehört wegen ihrer gut entwickelten chemischen Industrie zu den 14 Wissenschaftsstädten / Наукоград Russlands.
Thomas Neumann
Togliatti, die Autostadt
August 5, 2009
Ein tragischer Vorfall in Artek/Артек (vgl. hier) führt mich zu einem anderen Ansichtskarten-Set/Комплект. Palmiro Togliatti, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens, besuchte im August 1964 Artek/Артек. Am 13.8. erlitt er dort einen Schlaganfall, und am 21.8. stirbt er in einem Krankenhaus im nahegelegenen Jalta/Ялта.
Noch im gleichen Jahr wird in Artek/Артек ein Denkmal für ihn errichtet und die Stadt Stawropol a.d. Wolga/Ставрополь-Волжский nach Togliatti/Тольятти umbenannt. Drei Jahre später (1967) wird die Italienisch-Sowjetische Freundschaft weiter vertieft und in Kooperation mit Fiat der Bau des größten PKW Werkes der Sowjetunion in Togliatti/Тольятти begonnen. Schon 1970 nimmt das Wolga-Automobil-Werk/Волжский Автомобильный Завод “ВАЗ” seinen Betrieb auf. Der Fiat 124, Auto des Jahres 1966, wird als Grundmodell für die sowjetische Variante Schiguli/Шигули 2101 genommen. Im Ausland ist er ab 1974 unter dem Namen Lada 1200 bekannt. 1971 beträgt die Jahresproduktion 200.000 Wagen. Schon 1973 verdreifacht sich die Zahl.
Für Togliatti/Тольятти war das Automobilwerk ein großer Sprung nach vorne. Die Altstadt des ehemalige Stawropol a.d. Wolga/Ставрополь-Волжский wurde 1955 durch den Bau eines Wasserkraftwerkes überflutet. Mit dem neuen Autowerk kam nun ein neuer gigantischer Stadtteil hinzu. Der sogenannte Autowerk Bezirk/Автозаводский район, auch als Autostadt/Автоград bekannt, wurde komplett in Plattenbauweise errichtet. Die somit verbliebene Altstadt heisst nun Zentraler Bezirk/Центральный район und ist vorallem durch 50er und 60er Jahre Bauten geprägt. Zwischen den beiden Bezirken liegt viel Wald als Naherholungsgebiet/Зона отдыха. Allerdings braucht man mit dem Bus 20 Minuten, um vom einem Stadtteil zum anderen zu kommen. Übrigens ist die Autostadt Wolfsburg seit 1991 Partnerstadt von Togliatti/Тольятти.
In einem Ansichtskarten-Set/Комплект der Stadt aus dem Jahr 1972 (12 Karten, Planeta/Планета, Fotograf B. Krutzko/Б. Круцко) ist vom Autowerk und dem Autowerk Bezirk/Автозаводский район bis auf eine Hafenansicht (Verladung von ein paar Schigulis/Шигули) noch nichts zu sehen. Ich vermute, dass der neue Stadtbezirk noch im Bau war und noch nicht wirklich fotografisch repräsentativ war, um als Ansichtskarte herausgegeben werden zu können.

Ansichtskartenset Togliatti 1981
Das hier vorgestellte Ansichtskarten-Set/Комплект aus dem Jahr 1981 dagegen behandelt fast nur den Autowerk Bezirk/Автозаводский район und das Werk selbst. Das Set ist ebenso von Planeta/Планета herausgegeben, und die Fotos stammen von Ju. Buikowski/Ю. Быковский. Wie das Set aus 1972 stammt es aus einer Serie namens “Städte der UdSSR/Города СССР”. Während das erste Set russisch einsprachig ist, ist das zweite russisch/englisch/italienisch dreisprachig gehalten. Die Auflage/Тираж ist mit 370000 bzw. 400000 ungefähr gleich geblieben. Das 1981er Set hat das lange Ansichtskarten-Format (ca. 9x21cm) und laut Aufschrift darf man es nur in einem Umschlag verschicken/Отправлять только в конверте. Es beinhaltet 18 Karten und kostete mit 99 Kopeken mehr als das doppelte des 1972er Sets für 41 Kopeken.

Rückseite einer Ansichtskarte des Sets aus dem Jahr 1981
Beispielhaft habe ich meine 3 Lieblingskarten aus dem Set/Комплект herausgenommen. Von den insgesamt 18 des Sets/Комплект habe ich 14. Laut der aufgedruckten Liste fehlen eine Ansicht des Autowerkes/На испытательном треке ВАЗа, das Einkaufszentrum der Autostadt/Торговый центр Автогрвда, Ansichten “Neue Familie, Jugendwohnheim, Kinder der Autostadt/Новая семья, Молодежное общежитие, Дети Автогрвда” und Ansichten des Wolgastrands/На городском пляже.
Wenn man davon ausgeht, dass eine bestimmte Person die 4 Karten aus dem Set/Комплект entnommen hat, was könnte man daraus schlussfolgern? Vielleicht ein Ingenieur, der vom Werk und dem modernen sowjetisch städtischen Leben begeistert ist? Jemand, der sich sowohl für Autos als auch für die sozialen Aspekte und die Freizeitmöglichkeiten der Stadt interessiert?
Die drei ausgewählten Karten zeigen den Sportpalast/Дворец спорта (oben), das Kino “Saturn”, Strasse der Revolution/Кинотеатр “Сатурн”, Ул. Революционная (mitte) und die Hauptproduktionslinie des Autowerkes/На главном конвейере ВАЗа (unten). Das Panorama-Format wird in dem Set/Комплект nur selten wirklich ausgenutzt, obwohl man damit eine monumentale Wirkung erreichen könnte. Ich vermute, dass die damaligen Kleinbild-Fotos nicht soviel Qualität erbracht haben, dass man durch Abschneiden oben und unten ein Panorama erzeugen konnte. Echte Panorama-Fotografie habe ich bei den Sowjetischen Ansichtskarten selten gesehen. Meist wird das lange Format einfach in 2 Teile geteilt. So kann man auch mehr Motive unterbringen.
In der Ansicht des Sportpalastes/Дворец спорта kommt das Panorama sehr gut zur Geltung. Der Himmel ist groß, das Gebäude dynamisch-wuchtig und das Feld davor weit. Ein diagonaler Trampelpfad zeugt von aneignender Nutzung sowjetisch rechtwinkliger Stadtplanung. Sicher hat der Fotograf oder der Verlag mit sich gerungen: Eine gute Abbildung der Architektur und eine lebendige Szene mit Menschen contra unerwünschtem und unsowjetischem Trampelpfad. Vielleicht spielte die Überlegung auch keine Rolle, da die in der Realität vorhandenen Trampelpfade mittlerweile im Sozialistischen Realismus angekommen waren. Die sichtbare Realität ist immer wieder ein Problem für ideologische Fotografie.
Der Sportpalast/Дворец спорта ist sicher in den 70ern erbaut worden. Auf der Karte ist der Architekt nicht erwähnt. Interessant finde ich die kleinen verstreuten Menschen, die auf dem Panorama etwas verloren wirken und den Sportpalast/Дворец спорта gigantisch groß erscheinen lassen. Der Trampelpfad sagt viel aus über die Sowjetische Befindlichkeit: Am Menschen vorbei geplant. Dennoch haben die Leute den kürzesten oder bequemsten Weg zu ihren Zielen gefunden.
Auffallend sind die roten Jacken und Kleider der abgebildeten Frauen. Ob vor dem Sportpalast/Дворец спорта oder vor dem Kino/Кинотеатр, Frau trägt rot. War rot gerade angesagt? Oder soll es tatsächlich die staatstragende Farbe wiedergeben? Oder ist es Zufall? Rot ist ebenso das gläserne Gebäude auf der Strasse der Revolution/Ул. Революционная. Und natürlich die Schigulis/Шигули auf dem Produktionsband. Das scheint kein Zufall zu sein.

Sportpalast in Togliatti - Detail
Das Kino “Saturn”/Кинотеатр “Сатурн” ist wie der Sportpalast/Дворец спорта ein Betonklotz, aber die seitliche Fassade sieht recht verwegen und spacig aus. Und so verweisen der Name Saturn und das Emblem am Gebäude auch auf Weltraum und Fortschritt und das moderne Zeitalter. Gut gefällt mir auch die klare und unmissverständliche Aufschrift “Kino/Кинотеатр”. Schade, dass man nicht erkennen kann, welcher Film gerade läuft.

Kino in Togliatti - Detail
http://en.wikipedia.org/wiki/Tolyatti
Thomas Neumann